Welchen Film haben Sie zuletzt gesehen? Sicher können Sie sich noch an die Handlung erinnern; an einzelne dramatische Szenen; an die Namen der Protagonist*innen – vielleicht können Sie sogar noch einzelne Dialoge zitieren. Woran Sie sich vermutlich nicht mehr erinnern können, ist die langweilige Fortbildung vor einigen Wochen oder die trockene Präsentation Ihres Vorgesetzten beim gestrigen Workshop. Woran liegt das? Die Antwort lässt sich in einem Wort fassen: Storytelling.

Wir lieben es, spannende Geschichten zu hören. Und je mehr uns eine Geschichte fesselt, berührt oder amüsiert, desto stärker bleibt sie im Gedächtnis. Gleichzeitig vergeht die Zeit währenddessen wie im Flug – im Gegensatz zur langweiligen Fortbildung, bei der man im Minutentakt auf die Uhr schaut. Warum also nicht die Macht der Geschichten nutzen, um die Vermittlung von Lerninhalten interessanter und nachhaltiger zu gestalten?

Lernen als Heldenreise

Gerade E-Learnings können von einem gelungenen Storytelling-Ansatz enorm profitieren. Denn anstatt Inhalte und Fakten einfach nur in öden Tabellen und Textwüsten aneinanderzureihen, können diese in eine spannende Handlung verpackt werden – mit den Lernenden als Protagonist*in. Um dies zu veranschaulichen, lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen…

Wir erhielten vor ein paar Monaten die Anfrage der Eberhard Karls Universität Tübingen für ein E-Learning im Fachbereich Germanistik. Das Ziel: Eine möglichst interessante Einführung in das Mittelhochdeutsche erstellen. Sie erinnern sich vermutlich noch an den Fremdsprachenunterricht in der Schule. Verbtabellen, Grammatikübersichten, Vokabellisten – allein bei der Erinnerung daran werden einem die Augenlider schwer, nicht wahr? Auch das Lernen von Mittelhochdeutsch hält all diese Freuden bereit: Ablautreihen, Monophthongierung, Lautverschiebungen – das kann schon ganz schön ermüdend und eintönig sein.

Was hingegen überhaupt nicht eintönig ist: Eine abenteuerliche Heldenreise – mit geheimnisvollen Orten, gefährlichen Monstern und nervenaufreibenden Prüfungen. Genau so wollten wir also unser E-Learning gestalten! Gemeinsam mit Mitarbeiterinnen der Universität erarbeiteten wir eine Handlung, welche die Lernenden in eine mittelalterlich angehauchte Welt verschlägt. Dort erleben sie eine abenteuerliche Reise, die sie in unterschiedlichen Kapiteln zu verschiedenen Orten führt, an denen sie einzelne Prüfungen bestehen müssen, um die Reise fortsetzen zu können.

Die Lernenden werden auf Ihrer Heldenreise von einer Eule begleitet, die als Mentor fungiert und immer wieder hilfreiche Hinweise und Tipps gibt.

Stets das Ziel vor Augen

So gilt es beispielsweise, einen Fluss zu überqueren, wofür jedoch erst der zuständige Fährmann überzeugt werden muss. Dieser versteht unglücklicherweise nur Mittelhochdeutsch, weshalb zunächst die korrekte Aussprache der erforderlichen Wörter erlernt werden muss. Und siehe da: Auf einmal lernt man nicht mehr einfach nur irgendwelche Vokabeln und Regeln auswendig, sondern hat ein klares Ziel vor Augen. Man möchte weiterkommen; man möchte beweisen, dass man der Aufgabe gewachsen ist. Und umso größer ist das Glücksgefühl, wenn man letztendlich die Prüfung in Form eines Wissenstests bestanden hat und zum nächsten Kapitel vorrücken darf. Denn dort wartet bereits der unglückliche Ritter, dem man helfen muss, das Herz seiner Angebeteten zu erobern – natürlich mithilfe von Mittelhochdeutsch.

Bei der Erstellung der Geschichte haben wir uns an Joseph Campells Konzept der Heldenreise orientiert. In seinem Werk „A hero with a thousand faces“ zeigt Campell, dass sich überlieferte Mythen unterschiedlichster Kulturen auf die gleiche (oder zumindest sehr ähnliche) „monomythische“ Struktur zurückführen lassen. „Diese symbolische Heldenreise ist nichts anderes als ein Lernvorgang ganz im konstruktivistischen Sinne, das Erwerben von Wissen. An dessen Anfang steht immer die Vertreibung einer harmonischen Einheit: die Einsicht oder gar bittere Erkenntnis über den eigenen Hochmut oder das eigene Nichtwissen, eine Bedrohung, ein Problem, zumindest eine Frage. Derart dramatisch gestaltete Geschichten führen Lernende durch den emotionalen Prozess einer Lerninitiierung, denn ohne ,echte‘ Fragen findet kein nachhaltiges Lernen statt.“ (Ulrike Spierling, Interactive Digital Storytelling als eine Methode der Wissensvermittlung)

Stimmungsvolle Videos treiben die Erzählung voran und erzeugen eine besondere Atmosphäre – dadurch steigt die Immersion.

Die Macht der Medien

In E-Learnings funktioniert ein Storytelling-Ansatz besonders gut, da diese viele Möglichkeiten der multimedialen Gestaltung bieten. Atmosphärische Videos, interaktive Elemente, Bilder der Orte und Protagonist*innen, Audiofiles – all dies sorgt für Abwechslung und steigert die Immersion. Selbstverständlich sollten Geschichten in E-Learnings nach demselben Rezept gekocht werden, wie Geschichten in Filmen oder Büchern. Soll heißen: Es braucht eine gute Dramaturgie, um Spannungspunkte zu setzen und Neugier zu wecken. Und je stärker die Lernenden in die Geschichte eingebunden sind, desto motivierter sind sie, weiterzumachen.

Diese Mischung aus Storytelling, Wissensvermittlung und Gamification verhindert, dass sich das Lernen wie Arbeit anfühlt. Man fühlt sich vielmehr wie der Held oder die Heldin aus einem Abenteuerbuch, dazu auserkoren, die Welt zu retten. Das ist deutlich motivierender, als einfach nur auf die nächste Klausur oder Zertifizierung zu lernen. Gleichzeitig bleiben die Inhalte besser im Gedächtnis, wenn sie mit einem bestimmten Ereignis oder einer Emotion verknüpft sind. Beim Lernen stellt das Gehirn neuronale Muster her, indem neue Informationen mit bereits bekannten verknüpft werden. Ablautreihen? Ah richtig, das war doch die Episode, in der man ein Feld starker Verben überqueren musste, die einen ständig angreifen und beißen. Und sofort sind die Inhalte wieder vor dem geistigen Auge präsent. Ein ähnliches Prinzip nutzt übrigens die Loci-Methode, eine Mnemotechnik, bei der man sich Dinge in einem bekannten Raum (z. B. der eigenen Wohnung) vorstellt und somit Ankerpunkte zur Erinnerung erzeugt.

Aller Anfang ist schwer – doch es lohnt sich!

Allerdings gilt es bei der Erstellung eines E-Learnings mit Storytelling-Fokus einiges zu beachten. Wie lassen sich die Lerninhalte beispielsweise sinnvoll und nachvollziehbar in die Handlung einbetten? Schließlich geht die Immersion sehr schnell flöten, wenn hier auf einmal unlogische oder unpassende Dinge geschehen. Außerdem sollte man vor lauter Geschichtenerzählen nicht die eigentlichen Lerninhalte aus den Augen verlieren – hier braucht es eine gute Mischung aus Flavortext und Lernmaterial. Und natürlich sollten das Setting und die Tonalität der Geschichte möglichst gut auf die Zielgruppe zugeschnitten sein.

Sie sehen also: Storytelling in E-Learnings lohnt sich. Daher wagen Sie den Schritt und begeben Sie sich auf Ihre ganz eigene abenteuerliche und lehrreiche Reise. Vielleicht sogar in Ihrer eigenen Virtual Academy. Doch das ist eine andere Geschichte

Autor: Steffen Wietzorek, Consultant drehmoment www.drehmoment-gmbh.de