Tag 1 – Euphorie

Auf einmal ging alles ganz schnell: Corona, Lockdown, Home-Office. Und so sitze ich nun um Punkt 8:30 Uhr an meinem Schreibtisch und starte meinen ersten Tag im heimischen Büro. Ich fühle mich wie ein 6-Jähriger an seinem ersten Schultag. Meine Stifte liegen frisch gespitzt neben einem säuberlich aufgeschichteten Stapel Notizpapier, flankiert von einer dampfenden Tasse Tee und meinem vollgeladenen Handy, das nur darauf wartet, die ersten wichtigen Business-Anrufe entgegenzunehmen. Fehlt eigentlich nur noch die Schultüte.

Dann beginnt die Arbeit und was soll ich sagen: Ich kann mich nicht daran erinnern, schon einmal so produktiv und motiviert gewesen zu sein. Mein Körper sprüht geradezu vor Energie – kein Wunder, schließlich war der Weg vom eigenen Schlafzimmer an den Schreibtisch im Wohnzimmer deutlich entspannter als mein sonstiger Arbeitsweg. Kein mühseliges in die Pedalestrampeln; keine Busse, die mich und mein Fahrrad zu einem einheitlichen Gemisch aus Stahl und menschlichen Einzelteilen transformieren wollen; keine Hobby-Jan-Ulrichs, die auf ihren Rennbikes mühelos an mir vorbeiziehen und mir im Vorbeifahren einen gleichzeitig mitleidigen und verächtlichen Blick zuwerfen. Ich beginne, mein neues Home-Office-Dasein zu lieben.

Am Mittag steht dann das erste große Highlight an: Erstes virtuelles Teammeeting per Video-Konferenz. Als ich unserem Whereby-Channel beitrete, komme ich mir vor wie Bill Gates, Elon Musk und Steve Jobs in einer Person – ich bin ein Herrscher über die moderne Technik. Erst nach dem Meeting stelle ich fest, dass mein Mikrofon die ganze Zeit über auf stumm geschaltet war und meine grandiosen Redebeiträge daher nie die vier Wände meines Wohnzimmers verlassen haben. Na ja, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Vielleicht bin ich für den Anfang doch erstmal nur eine Synthese aus Bill Gates und Elon Musk – Steve Jobs kommt dann später noch dazu. Man braucht ja schließlich auch noch Ziele im Leben.

17:00 Uhr – Feierabend! Zufrieden und im Einklang mit der Welt erhebe ich mich von meinem Schreibtischstuhl und bringe meine leere Kaffeetasse zurück in die Küche. Auf dem Weg dorthin nicke ich dem Gandalf-Poster an meiner Wohnzimmertür zu und der alte Zauberer antwortet mir mit einem stolzen, anerkennenden Blick. Ich bin mir sicher: Wir beide werden noch viele schöne Tage erleben, in diesem wundervollen Home-Office-Traum!

Tag 12 – Routine

Das aufregende Gefühl der ersten Tage ist mittlerweile einer abgeklärten Routine gewichen. Ich sitze nicht mehr um Punkt 8:30 Uhr am Schreibtisch, sondern weiß zunehmend die Schlummerfunktion meines Weckers zu wertschätzen. Merkt doch sowieso niemand, wenn ich erst um 9:00 Uhr anwesend bin.

Heute habe ich mir eine ganz besondere Aufgabe gestellt: Ich werde mein erstes Teammeeting ohne Hose bestreiten. Was zunächst nach einer unglaublich spannenden und unterhaltsamen Idee klingt, entpuppt sich schon bald als weniger spektakulär als erhofft. Der einzig spürbare Effekt dieses meisterhaften Einfalls ist, dass mir um die Beine herum ziemlich schnell ziemlich kalt wird. Aber was man einmal begonnen hat, muss man auch zu Ende bringen. Um der zunehmenden Kälte Einhalt zu gebieten, beginne ich damit, meine Oberschenkel mit der Handfläche meiner linken Hand zu massieren. Erst im Nachhinein werden mir die halb verwunderten, halb angeekelten Blicke meiner Kollegen – und insbesondere meiner Kolleginnen – bewusst, da die rhythmischen Auf-und-Ab-Bewegungen meines Armes möglicherweise ein missverständliches Bild vermittelt haben. Ich beschließe daher, das Experiment Meeting-ohne-Hose, das ursprünglich als langfristige Forschungsreihe angelegt war, vorzeitig für beendet zu erklären.

In der Mittagspause halte ich ein kurzes Pläuschchen mit Gandalf, der mich über die unterschiedlichen Konsummöglichkeiten Auenländischen Pfeiffenkrauts aufklärt. Wir beide verstehen uns als quasi-Kollegen inzwischen wirklich prächtig, auch wenn ich mir nicht immer hundertprozentig sicher bin, wie ich seine bisweilen rätselhaften Aussagen verstehen soll. Was solls, schließlich ist niemand ganz perfekt.

Tag 21 – Frustration

Heute fühle ich mich nicht so gut. Die soziale Isolation beginnt an meinen Nerven zu nagen wie eine Ratte an einem saftigen Schweizerkäse. Ähnlich löchrig präsentiert sich auch meine Konzentration, denn die durch mein Hosen-Experiment verursachte Unterkühlung hat sich inzwischen zu einer hausechten Erkältung ausgeweitet. So sitze ich hustend und schniefend an meinem Schreibtisch und versuche irgendwie, mit meiner Arbeit voranzukommen. Doch allmählich muss ich mir eingestehen, dass meine Motivation von Tag zu Tag sinkt. Keine lauten Kaffeemaschinengeräusche im Hintergrund, keine nervigen Kollegen, die mich mit unnötigen Fragen malträtieren, stattdessen eine beinahe gespenstische Stille – was in den ersten zwei Wochen wie ein wundervoller Traum anmutete, entwickelt sich für mich mehr und mehr zur Belastungsprobe.

Daher habe ich heute bereits ein dreistündiges Gespräch mit Gandalf über dieses Thema geführt. Dabei habe ich ihm offen meine Zweifel gestanden und ihm gebeichtet, dass ich mit dem Gedanken spiele, meinen Chef um die Aufhebung meiner Home-Office-Tätigkeit zu bitten. Er meinte nur, das täten alle, die solche Zeiten erleben, aber es liege nicht in ihrer Macht, das zu entscheiden. Wir müssten nur entscheiden, was wir mit der Zeit anfangen wollen, die uns gegeben ist. Ich habe keine Ahnung, was ich mit diesem Rat anfangen soll. Um ehrlich zu sein habe ich langsam den Verdacht, Gandalf wird ein wenig verrückt…

Tag 36 – Zuspitzung

Die Gesamtsituation erreicht täglich einen neuen Tiefpunkt. Meine Erkältung hat inzwischen ihr Grundstudium abgeschlossen und absolviert momentan eine Weiterbildung zur Grippe. Zwischen Gandalf und mir herrscht seit drei Tagen eisiges Schweigen, da ich ihm gegenüber offen den Verdacht geäußert habe, der zunehmend ranzige Geruch in der Wohnung sei ein Resultat seiner mangelhaften Bartpflege. Zum Arbeiten komme ich kaum noch und auch an Videokonferenzen nehme ich nicht länger teil, da ich die mangelhaften geruchlichen Zustände in meiner Wohnung keinem meiner Kollegen zumuten möchte. Aber ich bin optimistisch, dass es sich hierbei lediglich um ein zwischenzeitliches Tief handelt und der Weg schon bald wieder bergauf führen wird.

Tag 62 – Eskalation

Ich bin mir absolut sicher: Gandalf möchte mich umbringen. Sein eisiger Blick verfolgt mich ununterbrochen, wo ich auch hingehe, und er faselt ständig irgendetwas von Ringen und dunklen Herrschern. Was hat das nur zu bedeuten, mein Schatz? Was will es von uns? Die einzigen Ringe, die mich im Moment interessieren, sind die tiefen, schwarzen unter meinen Augen. Ich habe seit sechs Tagen nicht mehr geschlafen, da meine Erkältung mittlerweile ihr zweites Staatsexamen bestanden und sich auch schon erfolgreich auf ein Promotionsstipendium beworben hat. Läuft bei ihr! Das einzige, was bei mir läuft, ist meine Nase – die aber dafür einen Marathon. Auf E-Mails und sonstige Anfragen meiner Kollegen reagiere ich nicht mehr, da ich den Verdacht hege, Gandalf überwacht sämtliche meiner Kommunikationskanäle. Ich muss mir allmählich eingestehen, dass sich mein Home-Office-Traum in einen wahren Albtraum verwandelt hat…

Tag 81 – Alltag

Die Lage hat sich normalisiert. Gandalf ist inzwischen in beiderseitigem Einvernehmen in die Küche umgezogen. Ich glaube, die Raumveränderung tut auch ihm gut – schließlich kann ich mittlerweile selbst ganz gut nachvollziehen, wie es sein muss, wenn man Tag für Tag auf dieselben vier Wände starrt. Auch meine soziale Interaktion hat wieder ein gesundes Level erreicht. Ich treffe mich jede Mittagspause mit meinen anderen Kollegen zu einem Kaffeeplausch in unserer virtuellen Kaffeeküche. Andere Tools wie Slack oder Asana geben mir das Gefühl, trotz Home-Office noch immer Teil einer Arbeitsgemeinschaft zu sein. Außerdem essen wir regelmäßig gemeinsam einen digitalen Donut und haben gestern sogar ein virtuelles Gin-Tasting veranstaltet. Gandalf ist ein wenig angefressen, weil er nicht teilnehmen durfte. Seither erklärt er mir jedes Mal, wenn ich die Küche verlasse, ich könne nicht vorbei. Was solls, der alte Sturkopf wird sich schon wieder beruhigen.

Und so lässt sich nach 81 Tagen im Home-Office folgendes Fazit ziehen: Home-Office ist für mich inzwischen weder Traum noch Albtraum – sondern einfach nur noch ganz normaler Alltag.

Autor: Steffen Wietzorek, Consulting Analyst drehmoment www.drehmoment-gmbh.de